Künstliche Intelligenz ist kein Zukunftsthema mehr – sie verändert bereits heute Unternehmen, Prozesse und Führungsverständnis. Daniela Rittmeier, Head of Capgeminis Generative AI Accelerator, zählt zu den wichtigsten Stimmen im KI-Bereich. In diesem Interview spricht sie mit Markus Trost über ihren Führungsansatz in Zeiten technologischer Disruption, warum KI für sie keine Innovation mehr ist – und wie Unternehmen den Schritt von der Idee zur Wertschöpfung schaffen.

Ihre Karriere im Bereich der Künstlichen Intelligenz ist beeindruckend. Was war der entscheidende Moment, der Sie dazu bewogen hat, diesen Weg als Führungskraft einzuschlagen? Und wann gab es einen Moment, in dem Sie diese Entscheidung zutiefst bereut haben?
Der entscheidende Moment war bei der BMW Group, als ich aus dem Fachbereich für Autonomes Fahren die Verantwortung für die erste KI-Strategie übernommen habe. Ich bin ein wissbegieriger Mensch und liebe komplexe Herausforderungen – schnell wurde mir klar: Es braucht für eine nachhaltig erfolgreiche KI-Integration nicht nur Technologie. Es geht um tiefgreifende Veränderungen – von Prozessen über Organisationen bis hin zu neuen Kollaborations-Modellen.
Erfolg in KI erreicht man nicht in einem Sprint, nicht in einem Marathon – eher in einem scheinbar endlosen Triathlon.
Diese Vielschichtigkeit hat mich gepackt. Ich habe gespürt: Das ist mein Spielfeld. Gezweifelt habe ich eigentlich nie – aber unterschätzen darf man die einhergehenden Herausforderungen nicht. Erfolg in KI erreicht man nicht in einem Sprint, nicht in einem Marathon – eher in einem scheinbar endlosen Triathlon. Es braucht Kraft, Resilienz, Ausdauer und sehr viel Energie. Zum Glück bringe ich genau das mit. Deswegen bin ich mir sicher: Ich bin ganz gut da, wo ich bin.
Führung ist immer mit Transformation und Weiterentwicklung verbunden. Könnten Sie Ihren aktuellen Arbeitgeber aus dieser Perspektive beschreiben? Und wie ist es gelungen, Künstliche Intelligenz zu einer strategischen Priorität und einem wirtschaftlichen Erfolg zu machen?
Nach meiner Zeit bei BMW bin ich bewusst den eher unerwarteten Weg gegangen – von der Industrie hinein in IT-Services und Entwicklung. Zielsetzung war es, meine einschlägigen Erfahrungen dort einzubringen, wo sie skalieren können: über die Industrien hinweg und entlang der gesamten Wertschöpfungskette.
Capgemini bietet dafür das ideale Umfeld. Wir sind ein im Ursprung europäisches und global agierendes Unternehmen mit aktuell 340.000 Mitarbeitenden. Wir sind in einer Art „Supermatrix“ organisiert – über Industrien hinweg (z. B. Automotive, Life Sciences, Public, Finance, etc.) und entlang verschiedenster Kompetenzen: vom klassischen Consulting über Produktentwicklung bis hin zu Testing, Validierung und Engineering. Damit sind wir einzigartig in punkto Hardware-Software-Codesign und können Ende-zu-Ende liefern – von der Strategie über die Implementierung bis zur Integration in physische Produkte. Ein klarer USP.
Nebe der agilen Organisatin ist unser europäischer Ursprung ein weiterer Erfolgsfaktor. In einem geopolitisch sensiblen Umfeld ist es ein Vorteil, internationale Arbeit mit einem wertebasierten, westlich geprägten Mindset zu verbinden. Das schafft Vertrauen und Stabilität – intern wie extern.
Künstliche Intelligenz ist bei uns nicht nur ein Buzzword, sondern Teil unserer DNA: Rund 10 % von Capgemini – etwa 35.000 Kollegen:innen – arbeiten an Daten und KI. Das ermöglicht es uns, aus einem breiten Kompetenzpool zu schöpfen. Aufgrund unserer kulturellen Vielfalt ist es manchmal herausfordernd, Teams zusammenzustellen, aber gleichzeitig sorgt diese Diversität für nachhaltig kreative Lösungsansätze und eine enorme Beschleunigung für unsere Kunden. Dabei steht immer der Mensch im Mittelpunkt – und nicht die Technologie.

Sie wurden von Capital als eine der führenden KI-Persönlichkeiten in der DACH-Region ausgezeichnet. Was macht aus Ihrer Sicht Führung im Bereich Data & AI besonders – und für welchen Aspekt brennen Sie persönlich am meisten?
Führung im Bereich Künstliche Intelligenz unterscheidet sich grundlegend von klassischen Führungsmodellen. In der hardwaregetriebenen Industrie schien es in der Vergangenheit oft möglich, als Einzelner Verantwortung allein zu tragen. Ich nenne das gerne das „Highlander-Prinzip“ – getreu dem Motto: „Es kann nur einen geben.“. Genau das funktioniert in der softwaregetriebenen Welt nicht. KI ist ein Teamsport. Die Verantwortungen sind zu komplex, zu vielschichtig.
Erfolgreiche KI-Integration braucht interdisziplinäre Teams – Expert:innen aus IT, Fachbereichen, Engineering, Produktentwicklung und weiteren Kompetenzen. Führung bedeutet hier, nicht mehr nur zu steuern, sondern kontinuierlich zu verbinden und zu lernen. Nahbarkeit, Offenheit und ein echtes Interesse an den unterschiedlichen Disziplinen, Perspektiven und Kompetenzen sind zentral.
Was mich persönlich antreibt: Ich bin überzeugt, dass man ein Menschenfreund sein muss, um KI nachhaltig zielführend einzusetzen. Viele reden über Technologie – über Modelle, Code, Algorithmen. Aber am Ende geht es nicht darum, den Menschen zu ersetzen, sondern ihn zu befähigen, besser, schneller und effizienter zu werden. Technologie darf die repetitiven Aufgaben abnehmen, damit wir unsere wertvolle Zeit für Kreativität einsetzen können.
Wir müssen den Menschen ins Zentrum stellen – nicht die Technologie.
Dabei wird Vertrauen zur Schlüsselwährung. Unsere Studien zeigen: 2023 vertrauten noch 73 % der Befragten generativer KI – ein Jahr später waren es nur noch 42 %. Bei neuen Systemen wie Agentic AI liegt das Vertrauen aktuell bei gerade einmal 27 %. Die Entwicklung des Vertrauensverlustes zeigt: Wir müssen den Menschen ins Zentrum stellen – nicht die Technologie. Wer das als Führungskraft versteht und lebt, geht langfristig in die richtige Richtung.
Als Führungskraft in einem so dynamischen Feld wie der KI – wie gelingt es Ihnen, Stakeholder im Top-Management und Ihr Team zu inspirieren? Und mit welcher strategischen Vision haben Sie sie hinter sich vereint?
Mir wird oft gesagt, ich strahle sehr viel Energie aus – für manche vielleicht sogar zu viel. Aber genau diese Dynamik ist essenziell, um Menschen in einem komplexen und volatilen Umfeld mitzunehmen. Energie ist ansteckend – und sie ist notwendig, um Bewegung und die notwendige Reibung zu erzeugen.
Zugleich braucht es Vision und Mission, die wir gemeinsam in meinem Team erarbeitet habe. Aktuell leite ich den Generative AI Accelerator bei Capgemini und unsere Vision lautet:
„We are accelerating Capgemini’s AI transformation –
trustworthy I by excellence I across business.“
Daraus leitet sich unsere Mission ab:
„With data at our fingertip’s interdisciplinary teams
- Incubating [Generative] AI
- Inspiring AI driven Business Growth &
- Unleashing your Data Value Add
in order to secure the future you want.“
Das ist mehr als ein Leitsatz – es ist unser Kompass. Bei jeder Entscheidung, jeder Priorisierung reflektieren wir: Entspricht das unserer Mission? Führt uns das ein Stück weiter in die Zukunft, die wir gestalten wollen?
Und ganz entscheidend: Es geht dabei nie um eine Person. Es geht darum, diese Transformation gemeinsam zu gestalten – menschenzentriert, wertebasiert und mit einem ganzheitlichen Blick auf unsere Zukunft.
Think big. Start small. Show value.
Wie gelingt es Ihrem Unternehmen, erfolgreiche Anwendungsfälle zu implementieren und in die Skalierung zu bringen? Können Sie ein konkretes Beispiel teilen?
Wenn Unternehmen auf uns zukommen, höre ich oft: „Wir müssen jetzt dringend etwas mit KI machen – aber wo starten?“ In solchen Momenten arbeite ich gern mit einem klaren Prinzip, das sich sehr bewährt hat:
„Think big. Start small. Show value.“
„Think big“ steht für eine ganzheitliche KI- und Datenstrategie, die sich aus der Unternehmensstrategie ableitet. Das klingt einfach, ist aber oft eine der größten Hürden: Wer sind wir als Unternehmen? Was macht uns einzigartig? Wo wollen wir hin – und wie sichern wir unsere Wettbewerbsfähigkeit im digitalen Kunden-Öko-System?
„Start small“ bedeutet, mit wenigen, gezielt ausgewählten Anwendungsfällen zu beginnen – idealerweise solchen, die nicht zu komplex sind und von denen mehrere Fachbereiche profitieren können. Statt nach dem einen „Killer-Use-Case“ zu suchen, fokussieren wir von Anfang auf Skalierbarkeit. Ein Beispiel: ein intelligentes Callcenter. Wenn wir es für eine Region wie Europa entwickeln, denken wir direkt mit, wie es auch unter Berücksichtigung der Kunden in Nordamerika oder im asiatisch-pazifischen Raum ausgerollt werden kann.
„Show value“ schließlich heißt: Wir zeigen von Anfang an den Kundenmehrwert auf. Das heißt wir bringen die richtigen Kompetenzen zusammen, bauen ein funktionsfähiges MVP (Minimum Viable Product) in der bestehenden IT-Infrastruktur und überprüfen die initiale Hypothese. So entsteht echte, messbare Datenwertschöpfung für das Business und damit Vertrauen sowie Akzeptanz für die weitere Skalierung.
Genau so entwickeln wir nachhaltige Erfolge. Nicht mit Aktionismus, sondern mit Strategie, Fokus und einer klaren Wertorientierung – und immer mit dem Menschen im Mittelpunkt.
Sie sind seit einiger Zeit erfolgreich im KI-Bereich tätig. Wie wird diese Technologie Führung verändern – und wie wird sich Ihr eigener Führungsstil in den nächsten drei Jahren entwickeln?
Führung wird sich im Zuge der KI-Transformation grundlegend verändern – und sie muss es auch. Ich unterscheide bewusst zwischen klassischen Managern, die den Status quo verwalten, und Führungspersönlichkeiten, die mit Vision und Weitblick agieren. Gerade jetzt, in einer Zeit disruptiver Entwicklungen, braucht es Letztere. KI verändert nicht nur Technologien, sondern ganze Geschäftsmodelle – in jeder Branche, bei unseren Kunden und ebenso bei Capgemini.
Um diese Dynamik zu gestalten, braucht es einen neuen Führungsansatz: datenbasiert, menschenzentriert, vernetzt. Vertrauen wird zur Leitwährung, denn technologische Entwicklung allein reicht nicht – sie muss in gesellschaftlich sinnvolle und wirtschaftlich tragfähige Strukturen eingebettet werden.
Gleichzeitig erleben wir einen gewaltigen Umbruch in der Führungslandschaft. Viele Unternehmen der „Old Economy“ stehen unter Druck, zahlreiche Führungspositionen rotieren. Für mich eine logische Konsequenz aus dem „War for Tech Talent“. In wirtschaftlich herausfordernden Zeiten zieht man sich reflexartig auf das vermeintliche Bekannte zurück. Wir brauchen genau das Gegenteil. Wir brauchen Mutmacher. Wir brauchen einen holistischen Ansatz. Wir müssen die richtigen Fragen stellen.
Nicht: Wie sieht das nächste Auto aus?, sondern: Wie sieht die Zukunft der nachhaltigen Mobilität aus? Nicht: Was kann ein neues Röntgengerät?, sondern: Wie sieht die Zukunft intelligenter Gesundheitsdienstleistungen aus? Nicht: Wie sieht der nächste Panzer aus?, sondern: Wie sieht die Zukunft der vernetzten Verteidigung für unsere Sicherheit und Stabilität aus?
Diese Fragen entscheiden über unsere Zukunft. Und sie erfordern Führung, die Komplexität zulässt, Perspektiven integriert und nachhaltige Lösungen sucht.
Was meinen eigenen Führungsstil betrifft: Ich habe in den letzten Jahren gelernt, dass meine Stärke im Brückenbauen liegt – als Übersetzerin zwischen diversen Disziplinen, Funktionen und Perspektiven. Daran möchte ich weiterarbeiten: meine Teams so aufstellen, dass sie selbst Verantwortung übernehmen, interdisziplinär führen und damit wiederum andere befähigen. Es ist ein Schneeballprinzip – einfach „Leading by Example“.
Ich möchte die notwendigen Diskussionen anstoßen, Sichtbarkeit schaffen und Räume zur Partizipation öffnen. Genau das ist mein Beitrag, um die daten- und KI-getriebenen Transformation menschenzentriert voranzutreiben. Das ist das Feld, in dem ich auch künftig meine Energie einsetzen möchte.
Sie verantworten auch den Bereich Innovation. Welche Innovationen stehen für Sie – neben KI – derzeit im Fokus?
Ganz ehrlich: Ich mag den Begriff Innovation nicht mehr. Er erscheint mir im KI-Kontext nicht mehr angebracht. Eine Kollegin aus UK brachte es kürzlich auf den Punkt: „AI Playtime is over.“. Wir sind längst über das Experimentierstadium hinaus – es geht jetzt darum, datengetriebene Technologien zu integrieren und zu skalieren. Für mich ist KI keine Innovation mehr, sondern gelebte Realität. Wir nutzen sie jeden Tag – im Alltag und zukünftig in allen Unternehmen.
Ich sehe mich weniger als Innovatorin, sondern vielmehr als AI Inkubatorin und Acceleratorin.
Dementsprechend sehe ich mich weniger als Innovatorin, sondern vielmehr als AI Inkubatorin und Acceleratorin. Und das heißt auch: Ich fokussiere mich auf das, was wirklich zählt und aktuell zur kurz kommt.
Ein weiteres Thema, das mich umtreibt, ist die Nachhaltigkeit. Viele neue Technologien werden vor allem unter rein wirtschaftlichen Aspekten entwickelt – aber selten mit Blick auf Ressourcenverbrauch oder den resultierenden CO₂-Fußabdruck. Wir müssen hier umdenken.
Als Ingenieurin treibt mich die Frage um: Wie können wir die begrenzten Ressourcen unserer Mutter Erde intelligent und verantwortungsvoll nutzen – auch oder gerade im Zuge der Digitalisierung? Das ist nicht nur eine Innovation, das ist unsere Pflicht.
Als erfolgreiche Teilnehmerin der ersten Kohorte des „Best of AI-Awards“ – konnten Sie bereits positive Effekte aus der Teilnahme mitnehmen?
Für mich persönlich war der wichtigste Effekt die Reflexion. Der Auswahlprozess hat mir die Gelegenheit gegeben, innezuhalten und mich zu fragen: Wer bin ich eigentlich? Wer ist Daniela Rittmeier als Mensch und wer ist sie als Führungskraft? – und bin ich auf dem richtigen Weg? Das hat mir nicht nur Klarheit über meine Stärken gebracht, sondern auch darüber, wo ich meine Energie in Zukunft gezielt einsetzen will.
Interessanterweise kam vermehrt die Frage: „Warum nur der zweite Platz?“ Ich fand die daraus resultierenden Diskussion mitunter amüsant. Ich war einfach dankbar, überhaupt nominiert gewesen zu sein. Und als ich kurz darauf auch beim Microsoft Power Woman Award erneut den zweiten Platz erhielt, wurden die Debatten direkt weitergeführt. Aber im Ernst: Für mich zählt nicht der Platz, sondern das, was ich daraus machen kann.
Ein wichtiger Effekt eines Preises ist Sichtbarkeit. Wenn wir wollen, dass sich etwas bewegt, müssen wir sichtbar sein, um unsere Sicht artikulieren zu können. Nur so entsteht Teilhabe, nur so können wir inspirieren. Für mich bedeutet diese Bühne nicht nur, selbst gesehen zu werden – sondern auch, meinem großartigen Team und meinem Netzwerk eine Plattform zu geben. So hat mich bei der Preisverleihung einer meiner wichtigsten Mitarbeiter begleitet, für den sich dadurch ein neues Netzwerk und eine neue Bühne eröffnet hat.
Ich denke ich darf stolz auf die Auszeichnung sein – aber noch mehr darauf, dass ich damit der KI und den Menschen dahinter mehr Bühne geben kann.
Wir danken Frau Rittmeier für das inspirierende Gespräch.
Portrait Daniela Rittmeier: Tom Kirkpatrick
Fotos von der Preisverleihung: Capital / Alena Schmick